25.09.2025

Taiwan Today

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Leben in einer anderen Kultur

01.09.1997
Schwester Maryta an ihrem Schreibtisch im Gebäude der Textilabteilung, der sie 14 Jahre lang vorstand. Seit 1991 leitet sie das Graduierteninstitut.

Freies China: Schwester Maryta, Sie haben Deutschland vor 34 Jahren verlassen. War das damals ein Abschied für immer?

Schwester Maryta: Ja, damals war das so. Die frühen Schwestern, die in die Mission gegangen sind, sind nie wieder zu Hause gewesen. Das war einmal zu teuer, zum anderen gehörte es zum Missionsgeist. Ich bin damals mit einem Schiff namens "Asia" in die Mission gegangen. Zu der Zeit war es noch billiger, mit dem Schiff zu fahren. Und für uns Missionare war das auch ganz praktisch, wir konnten viel Gepäck mitnehmen. Dieser eine Monat auf dem Schiff hat mir damals sehr gut getan. Das war so ein ganz allmähliches Abschiednehmen, nicht so wie mit dem Flugzeug: heute in Deutschland, und morgen in einer ganz anderen Welt. Jetzt macht mir das allerdings nichts mehr aus, weil ich mich hier schon eingelebt habe. Aber das erste Mal, das war psychologisch gesehen sehr gut, daß ich einen ganzen Monat so mit Wind, Meer und Wellen allein sein konnte und das Entfernen und Sich-Nähern von einer Kultur in die andere augenscheinlich miterleben und nachvollziehen konnte.

Für mich war das Abschiednehmen damals nicht so schwer wie für meine Eltern, weil ich jung war und meinen Idealen folgte. Es wurde jedoch später bei jedem Heimatbesuch schwerer, weil ich sah, wie meine Eltern älter wurden. Da fiel mir der Abschied schon schwer.

Wie hat es Ihnen auf den Philippinen gefallen?

Ich muß schon sagen, ich habe mich auf den Philippinen leicht wohlgefühlt. Die Leute -- in der Mehrzahl katholisch -- sindso herzlich und ausdrucksvoll. Die Kinder liefen auf einen zu, um das Kreuz, das wir stets tragen, zu küssen. Meine Vorstellungen von Ostasien waren damals recht begrenzt. Ich hatte wenig Ahnung, wie verschieden die Filipinos von den Chinesen sind. Ein völlig anderer Menschenschlag,eine ganz andere Kultur. Als ich dann nach drei Jahren auf den Philippinen 1966 nach Taiwan kam, habe ich den Unterschied stark empfunden, auch daß die Chinesen und die Deutschen manches gemeinsam haben.

Was denn?

Die Chinesen sind seriöser, nicht so emotional, nicht so extrovertiert wie die Filipinos. Sie arbeiten sehr fleißig. Das heißt nicht, daß wir in allem gleich sind, aber irgendwie fand ich da manche Züge, die uns Deutschen liegen. Auf der anderen Seite sind die Chinesen gastfreundlicher als wir, meine ich, und ich kann jetzt gut verstehen, warum unsere alten heimkehrenden Festlandmissionare immer Heimweh nach China hatten.

Welche Eindrücke hatten Sie von Amerika ?

Ich weiß noch, als ich [1971] nach Amerika kam, war mein erster Eindruck, daß die asiatischen Menschen äußerlich viel schöner seien. Vielleicht hatte es etwas damit zu tun, daß gerade zu der Zeit [Anfang der siebziger Jahre] besonders die Jugendlichen, die Studenten, einen Sport daraus machten, nachlässig auszusehen. Bewußt "careless" war "in". Die, die sich wirklich gut kleideten, waren die Schwarzen. Die hatten offensichtlich ein echtes Nachholbedürfnis. Das war so der erste Eindruck. Was mir jedoch an den Amerikanern gefiel, war, daß sie sehr "generous" sind, sehr großzügig, hilfsbereit,sehr verständnisvoll und extrovertiert. Sie sagen leicht, was sie denken. Es fällt ihnen leicht, etwas Liebenswürdiges oder Anerkennendes zu sagen.

Verglichen mit Taiwan oder Europa ist Amerika sehr jugendlich orientiert. Das sieht man auch gleich an der Kleidung und dem Modegeschmack. Alle wollen jünger aussehen, und man begegnet auch Damen im Alter von sechzig und darüber hinaus, die sich nicht scheuen, knallrot, gelb und andere bunte Farben zu tragen, fast wie Teenager. Das ist doch recht anders als der chinesische oder deutsche Geschmack.

Warum haben Sie 1982 an der Soochow University noch einen Magister in Chinesischer Kultur erworben?

Ich habe eine plötzliche Gelegenheit wahrgenommen. Dieses Magisterprogramm war nicht auf Chinesisch, es war auf Englisch. Heute existiert es auch nicht mehr in der damaligen Form. Unsere Lehrer waren chinesische Professoren, die in Amerika unterrichteten und für ein paar Jahre zur Forschung hierherkamen. Manche waren auch ortsansässige Professoren mit guten Englischkenntnissen. Die zwanzig oder dreißig Studenten im Kurs waren zum Teil Übersee-Chinesen oder Ausländer wie ich, die sich im Lesen und Schreiben der chinesischen Sprache doch verhältnismäßig schwer taten. Dieses Programm fand samstags oder an manchen Abenden in der Woche statt.

Zwar hatte ich mir zuvor schon Bücher über chinesische Geschichte und Kultur gekauft, mir aber nicht die notwendige Zeit genommen, sie auch sorgfältig zu lesen. An der Soochow-University mußte ich dann systematisch arbeiten: regelmäßiger Unterricht, eswurden Prüfungen abgenommen und schriftliche Semesterarbeiten verlangt. Angeboten wurden chinesische Geschichte, Kunst, Literatur, Philosophie, Buddhismus und Taoismus, und mir wurden viele Dinge, die ich in den sechzehn Jahren meines Aufenthalts erlebt hatte, vom Ursprung her klar. Es hat mir sehr beim Verständnis der chinesischen Kultur geholfen und zu ihrer Hochschätzung beigetragen. Die Chinesischen Klassiker waren erstaunlich, Konfuzius, Mencius, das Tao-te-ching, Chuang-Tzu. Ich habe etliche Arbeiten über sie geschrieben und mich in sie vertieft. Ich bin heute noch sehr beeindruckt, und ich meine, daß das Christentum und die ursprüngliche chinesische Lebensphilosophie doch vieles gemeinsam haben.

Was denken Sie über die anderen Religionen in Taiwan?

Ich finde, die buddhistische Bewegung hier in Taiwan hatin den letzten Jahren bewundernswerte Fortschritte gemacht. Während die Mönche und Nonnen früher ihr abgesondertes Leben in den Tempeln und Klöstern verbrachten, sind sie heute karitativ sehr engagiert. Es gibt auch viele Freiwillige und dienstbereite buddhistische Laien. Das ist eines der ermutigendsten Dinge, die es hier in Taiwan gibt.

Die katholische Kirche hat ein sehr freundschaftliches Verhältnis mit den Buddhisten. Manchmal sagen die Bud- dhisten sogar öffentlich, daß sie in puncto karitativer Tätigkeit viel von der katholischen Kirche gelernt hätten. Von der Idee und Bereitwilligkeit zur Zusammenarbeit und des religiösen Dialogs hier auf Taiwan zeugt auch das gemeinsam geplante Zentrum und Museum für Welt-religionen.

Persönlich bin ich davon überzeugt, daß der Dialog und die freundschaftliche Zusammenarbeit der Religionen unentbehrlich sind, einmal für die Glaubwürdigkeit der Religionen überhaupt, zum anderen im Hinblick auf die vielen Probleme hier und weltweit, mit der das 21. Jahrhundert fertig werden muß. Ich glaube nicht, daß wir es ohne Überzeugungskraft der Gläubigen aller Religionen schaffen werden, auch nicht hier in Taiwan.

Was bedeutet es für Sie, Missionarin zu sein?

Als ich 1963 in die Mission geschickt wurde, war das allgemeine Missionsverständnis noch so, daß Missionsschwestern ins nicht-christliche Ausland gingen, um sich dort in verschiedenster Weise für die Ausbreitung des christlichen Glaubens zur Verfügung zu stellen. Heute ist Europa genauso zum Missionsgebiet geworden, ja die ganze Welt und kein menschliches Betätigungsfeld sind ausgeschlossen, für Christus und seine Weltordnung Zeugnis zu geben -- auch nicht das Gebiet der Bekleidung und Mode.

Nichtsdestoweniger war und ist es für mich persönlich als Missionsschwester sehr bedeutsam, daß ich die Möglichkeit hatte, in einer anderen Kultur zu leben, zu lernen, und mich mit den Menschen, ihrem Schicksal und ihren Entwicklungsphasen zu identifizieren. Ein Missionar ist kein Tourist, der kommt und geht.

Es ist uns ein inneres Bedürfnis und Sendung, die Andersheit der Menschen und Kulturen zu verstehen und ihr Leben und Streben zu teilen. Das ist wohl ein lebenslanger, nicht immer leichter Prozeß. Es lohnt sich dennoch, ein wenig aus der eigenen Kulturhaut herauszukommen und die Welt mit neuen Augen anzuschauen. Das hat mich persönlich erweitert und sehr bereichert. Außerdem scheint es mir, daß wir Ausländer eine ganz besondere Rolle zu spielen haben, um die Chinesen wieder für ihre eigene Kultur zu begeistern. Zwar sind sie einerseits auf 4000 Jahre Kultur stolz, doch gibt es andererseits in den modernen Chinesen und der Jugend irgendwie einen Riß im Selbstbewußtsein. Das zeigt sich in vielerlei Hinsicht, nicht zuletzt in unkritischer Verwestlichung und blinder Nachahmung all dessen, was aus dem Westen kommt. Ich denke, das ist ein echtes Problem kultureller Identität. Es gibt viele Gründe dafür, nicht zuletzt die überstürzte Industrialisierung und Demokratisierung auf Kosten kultureller und moralischer Werte. Es scheint mir sehr wichtig, daß die modernen Chinesen sich wieder auf ihre ursprünglichen kulturellen Wurzeln besinnen.

Der Dienst in der Textilabteilung ist natürlich meine hauptamtliche missionarische Betätigung. Ich habe aber auch Gelegenheit, direkt missionarisch wirken zu können, wie zum Beispiel durch Glaubensgespräche, Unterricht, Bibelgruppen und den Dialog mit Andersgläubigen, der sich leicht und überall ergibt.

Besonders dankbar bin ich, daß ich dreimal im Monat mit Pater Kueppers (SVD) eine wachsende Gruppe von engagierten Katholiken, meist von der Uni, betreuen kann. Hier geht es darum, christliche "Laienführer" heranzubilden. Es werden Fragen und moderne Probleme im Licht der Heiligen Schrift betrachtet und diskutiert. Es wird gebetet und Glaubenserfahrungen ausgetauscht.

Wieso haben Sie diese Textilabteilung gegründet?

Die Textilindustrie hatte sich in den sechziger Jahren zur bedeutendsten Branche des Landes entwickelt, und alle Überlegungen und Entscheidungen waren vom wirtschaftlichen Fortschritt geprägt. Somit wurde auch mein Leben irgendwie "Opfer" dieses Fortschrittglaubens. Dennoch war ich bereit, diesen Weg mitzugehen, und habe mir mit dem Gedanken Mut gemacht, daß es im Leben und für mich als Missionarin letztlich nicht darauf ankommt, was man tut, sondern mehr darauf, wie man was tut. Darüberhinaus sollte man sich als Missionarin auch der Entwicklungsphase des Landes so gut wie möglich anpassen.

Die Textilabteilung war quasi eine Pionierabteilung. Nicht nur in dem Sinne, daß hier etwas neu aufgebaut wurde, was es auf Universitätsebene im Land bisher noch nicht gegeben hatte, sondern auch vom Konzept und Verständnis der Studenten und der Leute allgemein her gesehen.

Ich erinnere mich noch recht deutlich, als ich 1974 vom Studium aus den Staaten zurückkehrte, war die Stimmung unter den Studenten nicht gerade gut. Sie meinten, für die Herstellung von Kleidern muß man doch nicht an der Uni studieren. Sie hatten von der Komplexität dieses Studienganges und der vielfachen Bedeutung der Bekleidung nur sehr begrenzte Begriffe. Die Zusammenhänge zwischen Mode und Kultur, Kunstund Design, Mode-Psychologie, Soziologie, Geschichte und Philosophie hatten sie noch nicht erfaßt. Auch der Gedanke an Marktforschung, Werbung, Verbraucherrechte und -schutz waren noch nicht ins Bewußtsein gedrungen. Das Verständnis beschränkte sich auf technisches Know-how. Heute ist das alles kein Problem mehr. Das vierjährige Studium scheint noch nicht einmal lang genug zu sein, sich auch nur das notwendigste Wissen und Können anzueignen.

Taiwan ist eigentlich bis heute nicht gerade für eigene, originelle Mode-designs bekannt.

Das hat, wie ich schon andeutete, mit der Entwicklung der Textil- und Bekleidungsindustrie Taiwans zu tun. Anfangs war sie ganz auf Export, Massenproduktion, vom Ausland vorgelegte Muster und Modelle, billige Arbeitslöhne und Devisenhandel ausgerichtet. Für lange Zeit änderte sich recht wenig, bis man eines Tages merkte, daß die westlichen Großkäufer ausblieben, weil sie die gleiche Ware für niedrigere Preise in anderen Entwicklungländern einkaufen konnten. Da kam das große Erwachen, und man sah sich allmählich gezwungen, umzudenken.

Es war damals und ist auch heute noch für viele Betriebe ein Kampf auf Leben und Tod. Früher brauchte man nur auf Großkäufer zu warten und produzierte gemäß ihren Wünschen, ohne sich viele Gedanken über die Zukunft zu machen. Heute zerbricht man sich den Kopf über die Einrichtung von Design-Abteilungen, Marktforschung und Modeanalyse, CAD und CAM, Errichtung und Beaufsichtigung von Fabriken im Ausland, wo die Arbeitslöhne niedriger sind als hier, um nur irgendwie konkurrenzfähig zu bleiben. Dazu kommt, daß der lokale Marktmittlerweile für die Einfuhr von Modegütern geöffnet wurde und nun von Designerlabel-Produkten aus aller Welt überflutet ist. Im Exportwahn hatte man die wachsenden Bedürfnisse und die Interessen der inzwischen wohlhabend gewordenen Taiwanesen scheinbar völlig vergessen. Doch jetzt, da die Situation allmählich erkannt ist, wird alles getan, um das Versäumte nachzuholen. Viele Betriebe stellen heute Designerteams ein, und bemerkenswert sind auch die Bemühungen einiger einheimischer Designer, die bereits hier im eigenen Land ihre Markenware erfolgreich verkaufen und zweimal jährlich ihre Kollektionen vorführen. Gerade vor einigen Tagen wurde bei einer Modenschau der taiwanesischen Firma Shiatzyangekündigt, daß die Firma noch vor Ende dieses Jahres ihr erstes Modegeschäft in Paris eröffnen wird. Ihre Markenmode auf den internationalen Markt zu bringen, das ist zweifellos der Traum der besten unserer taiwanesischen Modeschöpfer.

Eine geschäftliche Überlebenschance hat eine Modefirma im Ausland aber sicher nur dann, wenn sie dort etwas auf den Modemarkt bringen kann, was nicht schon da ist, so ndern irgendwie andersist -- etwas, das nur aus chinesischer Kreativität hervorgehen kann und daher originell und authentisch wirkt.

Inwieweit haben westliche Modetrends heute einen Einfluß auf Modeschöpfung in Taiwan?

Der westliche Einfluß ist überwältigend. Die westliche Mode hat sich parallel zur Industrialisierung entwickelt. Moderne westliche Bekleidung paßt besser zum heutigen Leben. Das ist nicht rückgängig zu machen und mittlerweile auch ein internationales Phänomen. Wenn man aber so sehr westlichen Mode-Ideen verfallen ist, daß man blind wird für die eigene Kultur mit ihren viertausend Jahren an Kunstschätzen, Ornamenten und Ideenreichtum, dann gefällt mir das weniger. Westliche Modeschöpfer besuchen ja auch ihre Museen, durchforschen ihre Kunst- und Modegeschichte nach Ideen und lassen sich von ihrer Umgebung, ihren Farb- und Schönheitsidealen inspirieren. Warum nicht auch unsere Designer?

Als ich nach Taiwan kam, war ich anfangs sehr schockiert. In den Schaufenstern in Taipei waren alle Kleider auf westlich aussehenden, vorzugsweise blonden Mannequins und Schaufensterpuppen ausgestellt. Wieso merken die Leute eigentlich nicht, wie seltsam das ist, dachte ich oft. Tatsächlich wurde das damals als ganz normal empfunden. Für mich ist das ein deutliches Anzeichen für eine Identitäts- und Kulturkrise, die auch heute noch nicht überwunden ist. Es machte mich damals recht traurig, und ich erkannte umso deutlicher, wieviel man in einer Kulturallein von der Kleidung ablesen kann. Seitdem waren Mode und Kleider für mich mehr denn je alles andere als "oberflächliches Zeug".

Ich bin aber überzeugt, daß Taiwan trotz des Rückstandes und aller Konkurrenz auf dem besten Wege ist, immer mehr originelle Modedesigns erfolgreich auf den Markt zu bringen und sich des Reichtums der eigenen Kultur neu bewußt zu werden.

Warum ist die Kenntnis der eigenen Kultur denn so wichtig für Modedesign?

Wenn Designer aus ihrem eigenen Kulturgefühl heraus Mode schöpfen, werden ihre Modelle nicht mehr nur leblose Kopien sein, sondern ein einmaliger Beitrag zum heutigen Modegeschehen. Denken wir beispielsweise nur an Japan. Da haben wir ein gelungenes Beispiel für moderne Modeschöpfung ohne Vernachlässigung der eigenen Kultur. Im Gegenteil, die Textilien und Modelle ihrer erfolgreichsten Designer sind bewußter und stolzer Ausdruck kultureller Selbsteinschätzung und Selbstbestimmung. Tradition und Moderne sind in Japan integriert.

Unser Problem liegt aber nicht nur bei den Designern, es liegt tiefer. Es ist auch das Problem des Verbrauchers. Wenn das Modepublikum kein Interesse, keine Anerkennung für chinesisch inspirierte Stoffe und Modelle aufbringt, kön nen die Designerfirmen auch nicht existieren, denn Mode muß letztlich verkauft werden. Die Frage ist, warum gibt es so wenig Anerkennung für kultureigene Produkte? Warum herrscht ein solch selbstverleugnendes Interesse für rein westliche Mode? Da stimmt doch was mit der eigenen kulturellen Identität nicht! Wo liegen die Gründe dafür? Wie können wir ein gesundes kulturelles Selbstbewußtsein aufbauen? Das sind die Fragen, an denen wir nicht vorbeikommen, nicht als Designer, als Verbraucher, als Erzieheroder oder auch als Missionsschwestern.

Übrigens sind uns interessanterweise viele westliche Modeschöpfer voraus: Sie ließen sich in den vergangenen Jahren-- und ganz besonders in diesem Jahr, als Hongkong im Brennpunkt des Weltgeschehensstand -- chinesisch inspirieren und machten Weltmode. Vielleicht gelangen wir noch am schnellsten zu der Einsicht und zu der Überzeugung "Chinese is beautiful, too", wenn es uns die westlichen Modeschöpfer und Verbraucher nur oft genug vorsagen.

Wie sehen Sie Ihre Ordenstracht in Bezug auf Design?

Das ist eine gute Frage, die ich mir selbst schon oft genug gestellt habe. Persönlich würde ich es begrüßen, wenn unsere Tracht hier im chinesischen Kulturbereich irgendwie ein einheimisches Merkmal aufweisen würde, um damit anzudeuten, daß wir im Dienstdieser Kultur stehen. Wir sind gerade jetzt in einer experimentellen Phase für unsere Sommertracht. -- Im übrigen, gerade in dieser Abteilung und Industrie, die so viel mit Mode und ihrem ständigen Wechsel zutun hat und eigentlich davon und dafür existiert, gelte ich in der unveränderlichen Ordenstracht als ein "Unikum", fast wie ein Zeichendes Widerspruchs. Und das ist sehr angebracht, will mir und vielen erscheinen. Denn einerseits bejahe ich durch meinen Dienst die Bedeutung der Mode, andererseits soll die Schlichtheit der Ordenstracht daran erinnern, daß es bleibende, unveränderliche Werte gibt, auf die unser Erdenleben ausgerichtet ist, welche wir im steten Wandel der Zeiten nicht aus den Augen verlieren dürfen. Diese symbolische Bedeutung der Kleidung wachzuhalten, mitten im Trubel der Mode und des Vergänglichen, ist wohl auch Aufgabe einer Missionsschwester.

Warum sind Kleider so wichtig?

Kleider sind für mich mehr als schöner Stoff und Stil. Sie gehören zum Menschsein. Sie sind eine einmalige menschliche Erfindung, nicht nur, um vor den Elementen zu schützen und sich von der Tierwelt zu unterscheiden, sondern auch, um die persönliche Würde, Identität, Individualität und das Schönheitsideal eines jeden Menschen zum Ausdruck zu bringen.

Manchmal hält man Kleidung für etwas sehr Oberflächliches, Selbstverständliches. Ich meine, Kleider haben im Gegenteil eine sehrtiefe symbolische Bedeutung. Sie sprechen ihre eigene Sprache, längst bevor das erste Wort ausgesprochen wird. Sie sind unsere zweite, selbstgewählte Haut, der erste Eindruck, den wir von anderen Menschen erhalten und auf andere Menschen machen.

Was ist das Besondere an der Abteilung für Textilien und Kleidung und an dem Graduierteninstitut an der Fu Jen University?

Das Besondere ist, daß wir in unserer Abteilung von Anfang an nicht einfach nachmachten, was anderswo angeboten wurde, sondern uns fragten, was andere Unis oder Colleges nicht machten, und wie die Zukunft der Textil- und Bekleidungsindustrie aussehen würde. Dementsprechend wollten wir Fachkräfte heranbilden und unsere Lehrpläne ausrichten. Vielleicht waren wir anfangs mit unseren Designprogrammen und Ideen der Zeit hier ein wenig zu sehr voraus. Dennoch sind wir heute sehr gefragt. Es gibt in Taiwan kein zweites Institut mit systematischer Ausbildung für Weben, Drucken und Stricken, Textildesign und -technologie. Ebenso wurde Modemarketing viele Jahre lang nur bei uns an der Fu Jen University angeboten.

Das Graduierteninstitut ist das erste und einzige seiner Art in Taiwan. Wir haben lange gemeinsam überlegt, wo wir die Schwerpunkte setzen sollen. Nach sieben Jahren Erfahrung wissen wir heute, daß sich die sorgfältige Analyse genau bestätigt hat. Eine Studienrichtung hat die Bezeichnung "Design und Kultur", die andere "Modewirtschaft und Verbraucher". Letztere hat die Initiative ergriffen und entscheidend daran mitgewirkt, daß im Jahre 1992 endlich ein Verbraucherschutzrecht in Bezug auf Textilien und Bekleidung gesetzlich festgelegt wurde. Es ist aber doch noch ein langer Weg, bis die Kluft zwischen reinem Profitdenken und Zufriedenstellung der Bedürfnisse und Interessen der Verbraucher geschlossen werden kann. Die Unternehmer müssen allmählich von der selbstbezogenen Gewinnsucht abkommen und an ihren Beitrag zur sozialen und kulturellen Verbesserung denken.

Dafür ist die Uni da, sie soll zum gesellschaftskritischen Denken und Umdenken verhelfen, denn wahrer Fortschritt geschieht, wennder Ich-Bezogene zum Mitmenschen wird. Das hat schon Konfuzius klar erkannt, als er das Prinzip des menschlichen Mitgefühls(仁) zum A und O der Heranbildung seiner Jünger machte. Und die Fu Jen University macht sich diese konfuzianische Weisheit christlich zu eigen und setzt sich für die ganzheitliche Bildung des Menschen ein. Daher trägt die Universität auch diesen Namen: fu-jen (輔仁)bedeutet etwa "Förderung der Mitmenschlichkeit".

Sie leiten als Ausländerin ein Graduierteninstitut an einer chinesischen Universität. Ist das nicht recht anstrengend?

Als Ausländer ist man in vielerlei Hinsicht "gehandikapt", und das wird manchmal schon sehr anstrengend. Ich kann zum Beispiel nicht gut chinesische Schreibarbeiten erledigen. Ich kann zwar Schriftzeichen schreiben, abschreiben oder auch im Wörterbuch nachschlagen, aber wer hat schon die Zeit dafür, das würde ja ewig dauern. Unser Handikap als Ausländer kann aber auch zur Stärke werden. Man erfährt nämlich, wie sehr man von anderen abhängig ist. Man muß sich immer mit anderen beraten, weil man vieles selber nicht kann und weiß. Ich glaube, meine Schwäche beim Aufbau der Abteilung, der Museumssammlung oder auch des Graduierteninstituts hat sich am Ende als Segen erwiesen, denn sie hat mich zu guter Zusammenarbeit veranlaßt und Dankbarkeit gelehrt. Besonders meinen beiden Sekretärinnen möchte ich hier ein großes Lob aussprechen. Kurz: auf Hilfe angewiesen zu sein bewirkt, daß allmählich eine Atmosphäre entsteht, in der einer für den anderen einsteht. Das ist auch das, was alle schätzen und von uns bewußt gepflegt wird.

Was könnte besser laufen?

Manches könnte besser laufen, wenn wir nicht immer so furchtbar sparsam sein müßten. Wir würden dann ein paar Lehrkräfte mehr einstellen, wären nicht so überfordert und hätten etwas mehr Zeit für Forschung, für die Studenten und füreinander. Es nimmt viel Zeit und Energie in Anspruch, fortwährend Mittel und Wege zur Lösung unserer finanziellen Probleme zu finden.

Wie finanziert sich die Abteilungund das Graduierteninstitut denn eigentlich?

Die von den Studenten entrichteten Studiengebühren reichen gerade aus, die regulären Ausgaben für Personal und Lehrmaterialien zu decken. Für Bauten, teure Maschinen und Instrumente hängt es hauptsächlich von uns selber ab, was wir an Geldspenden und Materialspenden auftreiben können. Das ist keine kleine Sache. Wir haben aber vergleichsweise viel Glück gehabt und sind äußerst dankbar dafür.

Unser vierstöckiges Gebäude wurde zum Beispiel größtenteils von der Textilfirma Chung Shing Textile Co., Ltd. finanziert. Teure Maschinen und Computer versuchen wir möglichst kostenlos von Herstellern zu leihen. Die Japaner waren da sehr großzügig. Augenblicklich hat auch eine deutsche Textilfirma, die aber namentlich nicht genannt werden möchte, eine beachtliche Summe zur Verfügung gestellt.

Unsere ehemaligen Studentinnen und Studenten helfen uns auch auf verschiedene Weise. Unsere historische Textilsammlung wurde ausnahmslos mit Hilfe von Spendengeldern zusammengestellt und ist auch heute noch komplett von Spenden und Projekten abhängig. Wir hoffen sehr, daß sich eines Tages eine Stiftung findet, die zu einer langfristigen Förderung dieses Projekts bereit ist.

In letzter Zeit gab es in Taiwan um Ihre Arbeit und Person relativ viel Presserummel. Stehen Sie ungern im Rampenlicht?

Bei größeren öffentlichen Veranstaltungen werde ich sehr leicht zu sprachbewußt, und ich fürchte, jemanden bei der Begrüßung zu vergessen oder die Formalitäten zu verletzen.

Eigentlich bin ich von Natur aus sehr schüchtern! Doch die Verantwortung und Entwicklungsbedürfnisse unseres Lehrbetriebes haben mich entsprechend geformt. Was sein muß, muß sein. Und wenn es zum Nutzen des Ganzen ist, muß ich halt lernen, auch hin und wieder mit der Presse fertig zu werden.

In welcher Sprache verständigen Sie sich heute am häufigsten?

In unserer multinationalen Schwesterngemeinschaft bemühen wir uns gewöhnlich, Chinesisch zu sprechen. Es sind etliche deutsche Schwestern da, und wenn wir unter uns sind, besonders mit den älteren Schwestern, sprechen wir auch schon mal Deutsch. Wir beten die Laudes am Morgen auf Chinesisch und die Vesper am Abend auf Englisch. In welcher Sprache ich denke und träume, das weiß ich selber nicht. Meine Schreibarbeiten sind hauptsächlich Englisch, ich schreibe kaum Chinesisch. Aber wenn meine Sekretärin Schreibarbeiten vom Englischen ins Chinesische übersetzt, kann ich sehr wohl unterscheiden, ob das genau das ist, was ich zum Ausdruck bringen wollte. Ich unterrichte fast ausschließlich in Chinesisch.

Wie verbringen Sie Ihre Freizeit?

Es wäre herrlich, wenn ich mehr davon hätte. Für uns, die wir im Unterricht und in der Verwaltung eingebunden sind, ist es oft nicht möglich, den Tag nach Plan zu verbringen. Geregelte Freizeit kann man so kaum genießen, deswegen nehme ich mir Phasen der Freizeit und des Für-mich-seins, wie es mir am besten paßt. Natürlich haben wir als Ordensschwestern auch festgelegte Gebets- und Meditationszeiten, welche auch eine Art geistige Erholung sind. Wenn mir danach zumute ist, spiele ich auf der elektronischen Orgel. Und es ist mir eine besondere Freude, wenn ehemalige Studentinnen und Studenten nach vielen Jahren zu Besuch kommen, von ihrer Arbeitserfahrung berichten, ihre Babies vorführen oder Fotos mitbringen und man dabei so sieht, was aus ihnen geworden ist. Natürlich gehört ein Teil der Freizeit auch den Mitschwestern, besonders den ältesten unter uns, von denen einige noch in den dreißiger und vierziger Jahren an der alten Fu Jen University in Peking gewirkt haben. Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich gerne mehr spazierengehen, denn die Natur hat es mir immer schon angetan. Das ist meine beste Erholung. Gott sei Dank kann ich hierauf dem Campus wohnen, denn er ist wie eine schattige Oase, abgeschlossen vom Betrieb und Verkehrsrummel ringsum.

Wie stellen Sie sich Ihren Lebensabend vor?

Für mich selbst habe ich keine festen Pläne für meinen Lebensabend. Natürlich, weil mein Leben ganz mit der Fu Jen University verwachsen ist, würde ich gerne sehen, wie es weitergeht und mich nützlich machen, so lange es gewünscht wird. Ich war dem Orden immer dankbar, daß ich mein ganzes Leben an einer Stelle dienen konnte. Als Bauernkind bin ich wohl zur Seßhaftigkeit veranlagt, und es ist mir eine Genugtuung, den Prozeß von der Saat bis zur Blüte und Ernte mit allen dazugehörenden Wetterveränderungen mitzuerleben. In diesem Reifungsprozeß durfte ich mein Ordens- und Missionsleben nach Gottes Fügung verwirklichen. Und je mehr ich darüber nachdenke -- Gottes Wege sind wunderbar! Mehr Zeit und Muße zu haben, darüber nachzusinnen, das soll, so Gott mir ein langes Leben schenkt, Hauptinhalt meines Lebensabends sein.

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