Der Legende nach war die Insel Liuchiu in grauer Vorzeit mit der Hauptinsel Taiwan verbunden. "Aber vor langer Zeit schickte der damalige König eines Nachts einen Magier zur Zerstörung Liuchius los, denn der Ort war in seinen Augen so wunderschön und anregend, daß dort eines Tages gewißlich ein Usurpator geboren werden würde. Der Zauberer trennte Liuchiu mit seinem Schwert vom Rest Taiwans ab und trampelte dann darauf herum, wobei er einen Fußabdruck hinterließ." So fabuliert Cheng Tsung, 71 Jahre alt, Liuchius Grundschulrektor im Ruhestand und Autor des Büchleins Die Perle des Ozeans -- die Insel Liuchiu, das eine nützliche allgemeine Einführung dieses Ortes bietet.
Wenn die Legende auf Wahrheit beruht, dann muß Liuchiu vor der Heimsuchung durch den Hexenmeister wahrhaftig ein Paradies gewesen sein, denn selbst heute becirct die bilderbuchartige Landschaft die Herzen der Bewohner und der Besucher gleichermaßen. Tsai Chia-chiang, der kürzlich zum Gemeindevorsteher Liuchius gewählt wurde, bleibt in seinen Ferien sogar lieber zu Hause, als daß er die Insel verläßt.
Liuchiu ist nur nach einer halbstündigen Bootsfahrt vom Hafen Tungkang (südlich von Kaohsiung an Taiwans Südwestküste) aus zu erreichen. Aus der Ferne sieht die Insel relativ flach aus und schillert still im weiten Ozean. Beim Näherkommen sieht der Besucher vom Boot aus eine Uferlinie mit zerklüfteten Korallenfelsen, die im Laufe der Jahrhunderte zu grotesken Formen ausgewaschen worden sind. Am berühmtesten ist der auch als Symbol für Liuchiu auf Briefmarken der Republik China verewigte Vase-Rock. Dieser neun Meter hohe und sich nach unten verjüngende Fels hat seinen Namen von dem üppigen Grün auf der Oberseite, wodurch er wie eine Vase voller Blumen aussieht. Hinter dem Fels steht ein strahlend bunter Tempel zwischen den Bäumen und bildet bei Sonnenuntergang eine perfekte Kulisse für am weißen Sandstrand herumlaufende Kinder.
Liuchiu ist die einzige von Taiwans vierzehn küstennahen Inseln, die aus Korallen besteht. Glücklicherweise ist die Insel weit genug von den Industriegebieten der Region entfernt und daher ökologisch so gut wie gar nicht belastet. Mit seinem Korallenreichtum ist Liuchiu ein Eldorado für Fischer. "Die Gewässer rund um die Insel sind so sauber, daß die Fischer ihre Beute leicht ausmachen können", berichtet Tsai. "Die Fische verstecken sich aber gern in den vielen Löchern des Riffs." Leider ist das nicht die ganze Wahrheit. Zwar ist das Riff tatsächlich voller Löcher und Höhlen, doch das schützt die Unterwasserflora und -fauna nicht vor den Raubzügen der gewerblichen Fischer, die dem Meeresgetier mit Dynamit und Gift auf die Pelle rücken.
Tsais Angaben über die Wasserqualität sind jedoch nicht übertrieben, denn es ist wirklich außergewöhnlich klar. Sporttaucher haben so einen farbenfrohen Panoramaüberblick über die durch den Seetang schnellenden Tropenfische. Wegen der ebenfalls sehr sauberen Luft hält Cheng Tsung die Insel für einen idealen Ort, um Kinder großzuziehen. Als er einmal seinen Enkel nach Taipei mitnahm, fing sich der Junge dort gleich eine Erkältung. Sie suchten mehrere Ärzte auf, aber das Kind hustete und schniefte weiter. Nach der Rückkehr nach Liuchiu wurde er aber sofort gesund.
Das Klima ist mild, mit Jahresdurchschnittstemperaturen zwischen 18 und 36 Grad Celsius. Jedesmal, wenn Cheng einen Winter in Taipei verbrachte, brauchte er einen Wäschetrockner. Wenn er in Liuchiu dagegen seine Kleidung spätnachmittags wäscht und zum Trocknen in den Hof hängt, kann er sie noch vor Sonnenuntergang knochentrocken abnehmen.
Neben sauberem Wasser, reiner Luft und einem angenehmen Klima besitzt Liuchiu eine der schönsten Landschaften Ostasiens. Die Insel ist nicht größer als 6,8 Quadratkilometer und hat nur zwölf Kilometer Uferlinienumfang. Der Nordteil der Insel ist breit, aber nach Süden streckt sie sich lang und schmal wie ein menschlicher Fuß aus, was der alten Legende von dem trampelnden Zauberer wieder mehr Gewicht verleiht. Außer ein paar Sandstränden an der Nordostküste ist Liuchiu von Korallenriffen umgeben, die für Sporttaucher und Touristen in Booten mit Glasboden nichts zu wünschen übrig lassen.
Liuchiu ist zwar klein, hat aber eine sehr üppige Unterwasserwelt. Nach Statistiken der Kreisverwaltung Pingtung, die Liuchiu verwaltet, leben in den Gewässern um der Insel 176 verschiedene Fischarten und 177 Korallenarten. Eine kürzlich gegründete Firma bietet ein Wassersportprogramm an, unter anderem Gleitschirmfliegen und aufblasbare Kanus.
Die Landschaft ist sogar noch interessanter. Man kann diese kleine Insel bequem mit Fahrrädern oder Mopeds erkunden, die man überall leicht mieten kann. Wer aber mehr Zeit und Energie hat, sollte unbedingt auf Schusters Rappen auf Entdeckungsreise gehen. Für einen Rundgang um die ganze Insel braucht man auf der Uferstraße nur drei Stunden. Falls man die Wasseraktivitäten versäumt hat, kann man Ersatz finden: Es gibt ein höhlenartiges Aquarium mit einer verblüffenden Vielfalt von Tropenfischen, verschiedenen Arten von lebenden Korallen, anderen Meerestieren sowie eine Sammlung von Fossilien.
Besonders auffallend für Touristen ist die große Zahl von Höhlen und Tempeln auf der ganzen Insel. Zu den berühmteren Höhlen zählen die Höhle des Schwarzen Geistes und die Höhle der Schönheit. Die Höhle des Schwarzen Geistes ist eigentlich ein Korallenlabyrinth mit einem sehr alten, großen Baum am Eingang, der eine mystische Atmosphäre schafft. Es wird gemunkelt, daß die Höhle von Sklaven bewohnt wurde, die angeblich von den Holländern während ihrer Besetzung Taiwans (1624-1662) zurückgelassen worden waren. Die Sklaven kaperten oft vorüberfahrende Schiffe, bis eines Tages wütende Schiffseigner einen konzentrierten Gegenangriff starteten und alle Sklaven bei lebendigem Leibe in ihrer Höhle verbrannten.
Während der Qing-Dynastie (1644-1911) wurden in der Höhle Steinbetten, Stühle und Tische entdeckt, außerdem Juwelen und etwas Silber. Heute ist der Weg zu der Höhle wegen Absenkung zu schmal geworden. Draußen führt ein enger, gewundener Pfad hinauf zu einer überraschenden und atemberaubenden Aussicht über die offene See; vielleicht der beste Aussichtspunkt über das Meer auf der ganzen Insel. Ein Abschnitt der Uferstraße verbindet die Höhle mit einem nahegelegenen Strand, der den klingenden Namen "Sunset Boulevard" trägt -- vielleicht weil er nach Westen geht.
Die Höhle der Schönheit verdankt ihren Namen einer Geschichte über eine schöne Frau vom chinesischen Festland, die auf See in einen heftigen Sturm geriet und von den Wogen hierhergetragen wurde. Sie verbrachte dann den Rest ihres Lebens in dieser Höhle, in der es bizarr geformte Felsen und einen Teich gibt. Draußen führen Steinstufen hinab zum Ufer, wo riesige Korallen zutagetreten. Die anderen Höhlen in der Nähe können Touristen über einen gewundenen Pfad besichtigen.

Viele der Bewohner Liuchius bestreiten ihren Lebensunterhalt aus dem Meer, doch wegen des Preisverfalls von Thunfisch verstärken sich die Abwanderungstendenzen auf die Hauptinsel Taiwan.
Liuchiu ist berühmt für seine Tempel: Es gibt fast sechs pro Quadratkilometer, und alle sind in bestem Zustand. Es gibt deswegen so viele Andachtsorte, weil seit undenklichen Zeiten die Mehrheit der Insulaner ihren Lebensunterhalt aus dem Meer bestreiten muß, und vor dem Aufkommen moderner Navigationshilfen konnten die Fischer nur auf die Präsenz der alles sehenden, allwissenden Götter vertrauen. Wenn Seeleute nach einem besonders heftigen Sturm den rettenden Hafen erreicht hatten, spendeten sie manchmal den Göttern als Dank für die Rettung Geld für die Gründung eines neuen Tempels.
38 Tempel stehen auf dieser winzigen Insel, aber der spirituelle Mittelpunkt ist zweifellos der Pi-Yun-Tempel, welcher der buddhistischen Göttin der Barmherzigkeit Kuanyin(觀音) gewidmet ist. An Kuanyins Geburtstag, dem 19. Tag des zweiten Mondkalendermonats (dieses Jahr am 17. März), kommt die ganze Insel in Feststimmung, die lange Zeit anhält. Vierzig bis fünfzig Tage lang treten zweimal täglich taiwanesische Opernensembles vor den großen Tempeln auf.
Ein anderes wichtiges religiöses Fest ist die Zeremonie der "Begrüßung der Götter und Verbrennen eines Bootes", die alle drei Jahre stattfindet und eine Woche dauert. An den ersten sechs Tagen tragen Liuchius Einwohner Abbilder der verschiedenen Gottheiten auf einer Sänfte um die ganze Insel. An Touristen wie Einheimische werden kostenlose Snacks verteilt, und es finden verschiedene Kultur- und Volkskunstaufführungen statt. Der letzte Tag ist der Höhepunkt des Fests. Nach einer großen Zeremonie stecken die Teilnehmer ein prächtiges lebensgroßes Modellboot in Brand und lassen es von der Insel wegschwimmen -- eine symbolische Vertreibung von Krankheiten von der Insel. Während des Festes kommen traditionsgemäß die Auswanderer" der Insel zurück und helfen den Bewohnern, die sich Zeit zum Ausspannen nehmen, bei den Vorbereitungen des Festes. Diese Feiern gelten als Mittel zur Vertiefung der persönlichen Beziehungen, die aber auf Liuchiu sowieso schon sehr stark sind.
Die Insulaner haben mehrere Charaktereigenschaften gemeinsam. Sie sind fleißig, aufgeschlossen, gastlich und obendrein freundlich. "Sobald man aus dem Boot steigt, wird man wie ein Ehrengast behandelt", lobt eine Urlauberin. "Die Menschen hier sind einfach nett und freundlich." Das empfinden nicht nur die Touristen so. "Einheimische und Besucher kann ich auf einen Blick unterscheiden", behauptet eine einheimische Friseurin.
Es ist wirklich ein freundlicher Ort: Überall wird man angelächelt. Die Straßenhändler und Fischverkäufer preisen ihre Waren höflich den Touristen an, ohne sie zu belästigen oder gar die Straße entlang zu verfolgen, was in anderen Teilen Taiwans nicht ungewöhnlich wäre. "Die Menschen hier sind nett und ehrlich", findet der über achtzigjährige Hsu To, der sein ganzes Leben auf Liuchiu verbracht hat und zum Guavaverkaufen auf dem Markt immer noch seine besten Kleider anzieht. "Wir brauchen unsere Türen weder tagsüber noch nachts abzuschließen und können unsere Auto- oder Mopedschlüssel im Zündschloß steckenlassen, ohne Verlust oder Diebstahl fürchten zu müssen."
Die ältesten verläßlichen historischen Aufzeichnungen der Insel datieren aus dem Jahr 1755. In jenem Jahr kam zufällig ein Bürger der Stadt Kaohsiung namens Lee Yueh-lao(李月老) nach Liuchiu. Ihm fiel das angenehme Klima der Insel und ihr großer Fischreichtum auf, also siedelte er mit seiner Familie dorthin über und ermunterte mehrere seiner früheren Nachbarn in Kaohsiung, es ihm gleichzutun und die ersten Siedler Liuchius zu werden. Zu Beginn der japanischen Kolonialzeit in Taiwan (1895-1945) lebten über 400 Familien dort. Nach der japanischen Kapitulation unterstellte die Regierung der Republik China Liuchiu der Kreisverwaltung Pingtung, und heute leben 12 000 Menschen auf der Insel.
Anfangs lebten die meisten Bewohner im Nordwestteil der Insel oder an der Küste, weil diese Gebiete mehr Frischwasser hatten. Die wenigen Süßwasserquellen galten auf Liuchiu immer als sehr wertvoll. "In meiner Kindheit mußte sich meine Familie ein einziges Wasserbecken zum Waschen teilen", erinnert sich der Chinesischlehrer Hsu Chun-fa. "Und Schmutzwasser durfte nicht weggeschüttet werden, das kam in die Viehtränke." Wasser spielte sogar beim Heiraten eine Rolle. "Wenn eine Frau einen Mann heiratete, der an einer Frischwasserquelle wohnte und viele als Brennstoff verwendbare Bäume besaß, dann wurde sie von all ihren Freundinnen beneidet", doziert Liuchius Gemeindevorsteher Tsai Chia-chiang.
Das Wasserproblem wurde schließlich im Jahre 1981 gelöst, als von der Hauptinsel Taiwan eine unterseeische Frischwasserleitung und Stromkabel verlegt wurden, und heutzutage werden alle Einwohner ausreichend mit Trinkwasser und Elektrizität versorgt. Die täglichen Grundbedürfnisse sind also befriedigt, aber die Insel hat immer noch mit einem Transportproblem und einem chronischen Mangel an medizinischen Einrichtungen zu kämpfen.
"Wenn Liuchiu wirklich eine Perle des Ozeans sein soll, dann hat die Regierung diese Perle übersehen", klagt der Geschäftsmann Chen Chen-hua, der vor vier Jahren von Taiwan zu seinem Geburtsort zurückkehrte. "Ich habe viele Orte in der ganzen Welt besucht, und nach meiner festen Überzeugung könnte Liuchiu bei stärkerem Regierungsengagement eine internationale Touristenattraktion werden."
Unglücklicherweise ist die Insel nur auf dem Wasserwege zu erreichen. Jahrelang hatten örtliche Geschäftsleute das Monopol über sämtliche Boote für den Verkehr zwischen Taiwan und Liuchiu. Die Gebühren für die Überfahrt waren hoch und konnten willkürlich erhöht werden, besonders wenn zu Chinesisch-Neujahr die "Exil-Insulaner" heimkehren und mit ihrer Familie feiern wollten. Vor vier Jahren hatten die Inselbewohner diese Ausbeutung schließlich satt und baten die Regierung um die Einrichtung eines öffentlichen Bootsverkehrs.
Zuerst gab es Widerstände und Spott. Boote sind nicht billig, und die Zentralregierung hatte in der Vergangenheit nie viel Interesse an Liuchiu gezeigt. Auf das hartnäckige Drängen der Insulaner hin wurde aber schließlich von der Kreisverwaltung Pingtung ein Boot in Auftrag gegeben und mit Zuschüssen von der Provinzregierung gebaut -- wenn auch gegen den erbitterten Widerstand der Bootsmonopolisten Liuchius, deren Gewerbe dadurch untergraben wurde. Heute sind die Tarife billig und stabil. Ein Ticket einfache Fahrt auf dem öffentlichen Boot kostet 60 NT$ (3,50 DM) für Einheimische und 180 NT$ (10,30 DM) für Touristen. Das öffentliche Boot verkehrt auf der gleichen Route wie viele private Schiffe, und der Service mit einem Boot pro Stunde ab Tungkang beginnt jeden Morgen um sieben Uhr. Das letzte Boot fährt abends um 18 Uhr 20.
Die Insel ist dadurch freilich nachts und auch bei rauher See von Taiwan abgeschnitten. Während der Taifunzeit (Juli bis September) ist Liuchiu manchmal tagelang nicht erreichbar. Außerdem schippert das einzige öffentliche Boot tagaus, tagein im Pendelverkehr hin und her, und die Insulaner befürchten, daß es nicht ewig halten wird. Sie möchten daher von der Regierung ein weiteres Boot haben, aber weil ein neues Boot 80 Millionen NT$ (4,6 Millionen DM) kostet, ist abermals ein langwieriges zähes Ringen zu erwarten.

Dieser Tempel ist nur eines der vielen Gebäude, die der Insel ihren Charme einer vergangenen Welt verleihen.
Die medizinischen Einrichtungen sind ein weiteres Sorgenkind der Bewohner, was möglicherweise auch Touristen abschrecken könnte. Früher gab es ausschließlich traditionelle chinesische Kräutermedizin. Cheng Tsungs ältere Schwester starb seinerzeit hochschwanger an Lungenentzündung, nachdem alle Behandlungsversuche mit Kräutermedizin versagt hatten. Heute verfügt die Insel über ein viergeschossiges medizinisches Zentrum und kann außerdem die Dienste eines Not -Rettungsbootes der Kreisverwaltung Pingtung in Anspruch nehmen. Es gibt auch noch einen Hubschrauber des Luftgeschwaders der Nationalen Polizeiverwaltung, deswegen ist das drängendste Problem wohl gelöst. Zufriedenstellend ist die Situation aber noch lange nicht: Das medizinische Zentrum beschäftigt nur zwei Ärzte, und abgesehen davon gibt es nur noch drei private Arztpraxen.
Auch das Fehlen von Restaurants und Hotels mit internationalem Standard wirkt auf Touristen eher abschreckend. Es gibt nur drei Gästehäuser und drei Pensionen, die insgesamt gerade mal 300 Besucher aufnehmen können. Kein Wunder, daß trotz der außerordentlichen Schönheit der Insel bisher so wenige Menschen von Liuchiu gehört haben. Viele von Chen Chen-huas Freunden in Taipei glaubten, daß die Insulaner immer noch wie manche Ureinwohner im Lendenschurz herumliefen, doch Chen befreite sie von diesem Irrtum.
Wegen des jüngsten Preisverfalls von Thunfisch -- Liuchius Haupteinnahmequelle aus dem Meer -- verlassen immer mehr Menschen die Insel und suchen Arbeit auf der Hauptinsel Taiwan. Im Vergleich zu der Möglichkeit, die Familie für ein oder zwei Jahre zu verlassen und in dieser Zeit seltene Fische zu fangen, scheint Auswanderung das kleinere Übel zu sein. Auf Liuchiu sind Jobs heute knapp. "In meinem Büro hatte ich eine Stelle mit einem Monatsgehalt von weniger als 15 000 NT$ (860 DM) zu vergeben, aber es haben sich über vierzig Leute dafür beworben", teilt Gemeindevorsteher Tsai Chia-chiang mit. Als Folge der Abwanderung nach Taiwan geht Liuchius Bevölkerung rapide zurück.
Eine Umwandlung Liuchius in ein Touristenzentrum würden viele Einwohner begrüßen, weil ein solcher Wandel viele neue Arbeitsplätze schaffen würde. Bei einer Entwicklung der Insel wäre der Schutz der Korallenriffe aber von großer Dringlichkeit. Illegale Korallensammler haben im Laufe der Jahre mit ihren Beutezügen dort bereits empfindlichen Schaden angerichtet. Wenn die Gesetze auf Liuchiu weiterhin so lax angewandt werden, werden die schönen Korallenriffe, tropischen Fische und anderen seltenen Meerestiere bald verschwunden sein. "Wenn die Regierung die Insel als Küsten- oder Naturschutzgebiet ausweist, ist es noch nicht zu spät", appelliert Chen Chen-hua.
Taiwans öffentlicher und gewerblicher Sektor haben zum Jahresbeginn 1998 eine neue Wochenarbeitszeitregelung in der Republik China eingeführt, nach der zwei Samstage im Monat frei sind und die restlichen Samstage halbtags gearbeitet wird. Die Einwohner Liuchius erhoffen sich von dieser Regelung höhere Touristenzahlen. Die Menschen in Taiwan haben jetzt mehr Freizeit, und es gibt Anzeichen dafür, daß immer mehr von ihnen verstärkt reisen werden. Als Reaktion auf diesen Trend hat der Formosa Plastics-Konzern großartige Investitionspläne in Höhe von 6 Milliarden NT$ (350 Millionen DM) zur Entwicklung der Insel angekündigt, darunter den Bau eines Hotels und eines Vergnügungsparks sowie ein Projekt zur Fischzucht in den umliegenden Gewässern.
Das Amt für Tourismus und die Kreisverwaltung Pingtung haben die Möglichkeiten ebenfalls erkannt. Sie planen eine administrative Zusammenfassung des Landschaftsgebietes Taipon Bay (eine Lagune in Tungkang), des Nationalparks Kenting an der Südspitze Taiwans und der Liuchiu-Insel, um so eine Fremdenverkehrsregion zu schaffen, die mit ihren vielen Attraktionen ausländische Touristen anlocken könnte. Die Entwicklung des Landschaftsgebietes Taipon Bay läuft bereits, aber bei Liuchiu befindet sich alles noch im Planungsstadium.
Ob der Plan verwirklicht werden wird, weiß niemand. Der pensionierte Grundschulrektor Cheng Tsung beklagt sich, daß zu Wahlkampfzeiten viele Politiker herkommen und vollmundig die Schaffung neuer Arbeitsplätze durch Unterstützung bei der Tourismusförderung versprechen, aber nach den Wahlen sind diese Versprechungen immer gleich vergessen. "Ich habe ihre Lügen satt", poltert Cheng.
Die Insel Liuchiu hat eindeutig das Zeug zu einem Ferienort. Nach einer Studie der Kreisverwaltung Pingtung besitzt sie eine der schönsten Naturlandschaften ganz Taiwans: "Die zerklüfteten Klippen, die Höhlen und Korallenriffe sind wunderschöne Naturkunstwerke. Außerdem liegt Liuchiu weitab von Taiwans lauten, verschmutzten urbanen Agglomerationsgebieten und kann den Stadtbewohnern so eine andere Aussicht bieten. Die Insel sollte sorgfältig erhalten und gut entwickelt werden. Es wäre sehr schade, wenn ein so schöner Ort unbekannt bleiben würde, aber seine Zerstörung wäre ebenfalls eine Tragödie."
Vielen Besuchern gefällt der Ort so gut, daß sie auf jeden Fall wiederkommen wollen. Aber was werden sie bei ihrem nächsten Besuch vorfinden -- eine neue Welt oder einen im wesentlichen unveränderten Ort? Was auch geschehen mag, eines ist sicher: Die Landschaft und die Korallenriffe müssen erhalten bleiben. Niemand möchte schließlich, daß der legendäre Hexenmeister noch einmal nach Liuchiu zurückkommt und sein Vernichtungswerk wiederaufnimmt, das er all die Jahrhunderte unvollendet gelassen hatte.