Da die Gruppe in Taiwan auf diesem Gebiet fachliches Neuland betrat, nahmen Forschen und Lernen in den ersten Jahren viel Raum ein, und man sondierte in der Frühphase der Demokratisierung der Republik China auf Taiwan die Möglichkeiten des Mediums. Liang ging nach New York, studierte 1993 ein Jahr lang Regie am Circle Repertory Theatre und kehrte mit noch mehr Ideen nach Taiwan zurück. Nachdem er über hundert amerikanische Tanzmusicals gesehen hatte, erkannte er das unausgeschöpfte Potential einer hocheffizienten Verbindung von westlichem und östlichem Theater, Musik, Tanz und graphischer Kunst in Taiwan.
Liang wurde während seiner Zeit in den Staaten tief von Produktionen wie The Sound of Music und South Pacific von Rodgers und Hammerstein beeinflusst. Dieser Einfluss ist nicht zu übersehen, denn der starke Gemeinschaftsgeist dieser klassischen amerikanischen Musicals prägt auch die Produktionen des Godot-Theaters. Wenn man die Prämisse annimmt, dass eines der wichtigsten Ziele von Theater generell die Schaffung eines Kommunikationsmediums zwischen den Bühnenschriftstellern, dem Publikum und der Öffentlichkeit in Bezug auf die brennendsten Themen im Leben der Menschen ist, dann ist das Godot-Theater in der Tat überaus erfolgreich.
In seiner gegenwärtigen Struktur besteht das Godot-Theater aus drei gemeinsam verwalteten Teilen. Das Maskottchen des Godot-Theaters ist ein nur in Taiwan vorkommender Königsfasan. Dieses Maskottchen trägt eine Theatermaske, die das Schauspiel symbolisiert, und hat einen graziösen Gang und einen langen Schweif, was den Tanz und die Kostüme allegorisiert. Die Füße des Fasans stehen laut Liang jedoch fest auf dem Boden, womit die Stabilität und Ernsthaftigkeit der Theatergruppe signalisiert wird, einen dauerhaften Beitrag zu Taiwans Kunstszene zu leisten.
Der zweite Teil des Godot-Unternehmens mit dem Namen "Wachsendes Theater" sucht und pflegt neue Talente. Auch hier ist zur Bekräftigung der Verbindung zum ursprünglichen Godot-Theater das Maskottchen ein Königsfasan, nur hockt dieser Fasan oben auf einer Wetterfahne. Die Pfeile darunter weisen in verschiedene Richtungen, ein Hinweis auf die Gründungsidee des Godot-Theaters, dass Theaterstile und -ideen aus sehr verschiedenen Richtungen kommen.
Der dritte Teil der Godot-Gruppe mit dem Namen "Goldkind-Theater" wird durch einen Königsfasan symbolisiert, der Getreidekörner aufpickt -- er steht für das jüngste Theaterpublikum von Godot. Jeder der drei Unterbereiche des Godot -Theaterunternehmens hat eigene Schauspieler unter Vertrag, aber oft treten Schauspieler aus einem Ensemble auch in Vorstellungen eines der beiden anderen Ensembles auf. Flexibilität -- beim Spielen auf der Bühne, bei der Auswahl der Skripte und Musikstile sowie bei der Aufnahme künstlerischer Elemente anderer Kulturen, was alles das gebildete Publikum in Taiwan anspricht -- ist eine der Stärken dieser einheimischen, professionellen Theatergruppe.
Eine andere Stärke des Godot-Theaters liegt in der von den Gründervätern geschaffenen künstlerischen Synthese von Theaterformen aus Taiwan und anderen asiatischen Ländern mit denen aus dem Westen -- und, noch beeindruckender, mit internationaler visueller Kunst, Tanz, Theater und Musik. Mit dieser komplizierten Mischung von Kunst und Kulturen produziert Godot Theaterstücke und Musicals, die wie Taiwan selbst in Bezug auf Quelleneinfluss nicht so leicht einer bestimmten Kategorie zugerechnet werden können. Bekannte Musiker aus Taiwan und Japan wie Chang Yu-shen oder Koji Sakurai haben bei Godots Produktionen mitgewirkt und eine starke, jugendliche Synergie geschaffen. Auch wurde 1989 wirklich kulturelles Neuland erschlossen, als bei einer Produktion von Godot auch Dialoge in Mandarin-Chinesisch und dem taiwanischen Dialekt vorkamen. Während der autoritären Periode der Republik China hätte man die Verwendung des taiwanischen Dialekts noch nicht wagen können.
Die Verschmelzung asiatischer und westlicher Kunstformen wird bei der Betrachtung des Repertoires am deutlichsten. Unter den 22 Godot-Produktionen findet man westliche Klassiker wie Edward Albees The Zoo Story, Sam Shepherds Fool for Love , Edmond Rostands Cyrano de Bergerac aus dem 19. Jahrhundert und andere. Chinesische Produktionen umfassen Titel wie das Kampfkunst-Stück Chyau Fong -- das Ende des Schicksals , Die Taipeh-Tiermenschen und andere. Bei manchen Produktionen werden westliche und östliche Ideen und Handlungen noch enger miteinander verbunden, etwa bei Das kleine Städtchen Tamsui, einer taiwanischen Version von Thornton Wilders Our Town. Die Produktionen bestechen, weil sie nicht einfach nur taiwanische Imitationen westlicher Stücke sind (eine Kritik, die man gelegentlich in Bezug auf andere lokale Theaterproduktionen oder auf inländische Kunst allgemein hört), sondern neuartige Kunstwerke, die zur Unterhaltung und Herausforderung des modernen Publikums in Taiwan asiatische und westliche Ideen im Theater vereinen.
Die bislang erfolgreichsten Produktionen des Godot-Theaters sind seine vier Variationen von William Shakespeares Der Widerspenstigen Zähmung. Die im März 1994 uraufgeführte erste Produktion trug den Titel Der Widerspenstigen neue Zähmung. Ort der Handlung war "Miro City" nach dem spanischen Maler Joan Miró (1893-1983), dessen hundertster Geburtstag in New York während Liangs Studienaufenthaltes dort mit einer riesigen Ausstellung gefeiert worden war. Bühnendesign, Beleuchtung und Kostüme in dieser ersten Shakespeare-Adaption von Godot zeigten deutlich Mirós Einfluss. In der zweiten, dritten und vierten Produktion heißt der Ort der Handlung zwar auch weiterhin "Miro City" mit einem ebenfalls sehr bunten und abstrakten Bühnendesign, aber die imaginäre Theaterwelt ist ganz offensichtlich das moderne Taipeh.
Alle Godot-Produktionen von Der Widerspenstigen Zähmung (die letzten drei haben den Titel Küss mich, Nana ) wollen provokativ zum Denken aufrütteln und im jungen, gebildeten Publikum in Taiwan einen Dialog über die Natur der Beziehungen zwischen Mann und Frau anregen, über den Einfluss der Kultur auf diese Beziehungen, die Bedeutung von Heirat im Leben von Individuen und das Ausmaß von Flexibilität, das jeder im Publikum bei der Gestaltung seines eigenen Lebens hat. Godots Zielpublikum für diese Produktionen sind Menschen zwischen 25 und 35, also die Altersgruppe taiwanischer Menschen, die sich oft vor die Entscheidung -- wenn nicht gar den Zwang -- zu heiraten gestellt sieht.
Wegen der Einfachheit der Handlung und weil die von dem Stück aufgeworfenen Fragen gut zum Publikum in Taiwan passen, wählte die Gruppe laut James Liang bewusst die Adaption von Shakespeares Der Widerspenstigen Zähmung. Obwohl Liang das 1948 entstandene Musical Kiss me, Kate von Cole Porter (1891-1964) und auch die Verfilmung von Der Widerspenstigen Zähmung (mit Elizabeth Taylor und Richard Burton in den Hauptrollen) im Jahre 1966 unter der Regie von Franco Zeffirelli (* 1923) bekannt sind, wurde Liangs Produktion nur wenig von ihnen beeinflusst. Die Widerspenstigkeit seiner Kate, bei Godot "Hao Li-na" genannt, ist typisch taiwanisch. Godots Produktion lässt die Frage aufkommen, wieso Kate so hart und individualistisch ist -- mit anderen Worten, warum sie mit dem konventionellen Klischee der traditionellen, unterwürfigen jungen Taiwanerin so wenig gemein hat.
Bei den zahlreichen Produktionen von Godot werden oft soziale Gemeinplätze und Stereotypen des heutigen Taiwan verhohnepipelt.
Nach Liangs Ansicht machen westliche Interpretationen von Kates Charakter -- beispielsweise Elizabeth Taylor in Zeffirellis Film -- für das in einer asiatischen Gesellschaft lebende taiwanische Publikum keinen Sinn. Hao Li-na ist anders: In vielerlei Hinsicht ist sie ein Rollenmodell für die junge moderne Taiwanerin. Das Stück macht sich zwar über viele andere Charaktertypen lustig -- etwa den habgierigen Vater, die äußerlich gehorsame, aber hinterlistige jüngere Schwester Hao Li -ssu (also Shakespeares Bianca) sowie den "Drachenmann"-Freier, der nach einer reichen Braut sucht --, aber sympathisiert dafür mit der jungen weiblichen Protagonistin Li-na, die ihre eigene Identität zu schützen sucht und in ihrer Familie und der Gesellschaft Raum für sich selbst schaffen will. Sie erscheint wohl ungestüm und ist manchmal geradezu unfreundlich, doch sie verehrt ihren Vater und versucht ihre jüngere Schwester vor den zudringlichen Freiern zu beschützen, die es eigentlich nur auf den Reichtum des Vaters abgesehen haben.
Die wahre Schönheit der vier Adaptionen von Shakespeares Der Widerspenstigen Zähmung rührt sicherlich nicht von der Tatsache her, dass sie ihren Ursprung in " Shakespeare" als historischem Gebilde haben, sondern in Godots Annahme einer shakespearischen Handlung zur Schaffung einer neuen Kunst -- einer Kunst, die Klassik und Moderne, Ost und West in einer Weise miteinander verbindet, die das moderne und junge Publikum in Taiwan gleichzeitig fasziniert und unterhält. Die Choreographie von Yuri Ng, das künstlerische Bühnendesign von Sammeul Wang, die Kostüme von Tsai Yu-fen sowie die populäre Musik des verstorbenen taiwanischen Künstlers Chang Yu-shen und des japanischen Künstlers Koji Sakurai tragen gemeinsam mit den Vorstellungen des Ensembles zum Erfolg der Produktionen bei.
Die Produktionen von Der Widerspenstigen Zähmung des Godot-Theaters nehmen humorvoll dem Publikum wohlbekannte verbreitete Ansichten und soziale Stereotypen des heutigen Taiwan auf die Schippe. Beispielsweise kleidet der betagte Vater der Schwestern Li-na und Li-ssu (Kate und Bianca) sich in offizielle Mandarin-Kleidung und hat das klare Ziel, für seine jungen Töchter wohlhabende Ehemänner zu finden. Der alte Herr kümmert sich ausschließlich darum, was unter'm Strich bei dem Handel herauskommt. Häufig zückt er seinen an einer Kette hängenden großen Taschenrechner und berechnet beim Verhandeln über die Anträge von Freiern für seine Tochter Li-ssu Geldbeträge. In einer anderen Szene spiegelt ein altes taiwanisches Lied die verbreitete einheimische Denkweise wider, dass Frauen mit dreißig Jahren verheiratet sein sollten -- eine Art von Signal an Pan Ta-lung (Shakespeares Petruchio, der hier Hao Li-nas "Drachenmann"-Freier darstellt), dass er sich beim Werben um Li-nas Hand behaupten wird.
Li-nas Charakter ist vielleicht am taiwanischsten. Anders als die Kate in den meisten westlichen Produktionen von Der Widerspenstigen Zähmung wird sie als alternd und weniger attraktiv als ihre jüngere Schwester dargestellt. Ihre "Widerspenstigkeit" liegt daher wohl weniger in ihrem Gemüt als eher in ihrer verminderten Heiratsfähigkeit -- Ehe und Mutterschaft als Säulen des konfuzianischen Glaubens, dass jede Generation der vorhergehenden Generation verantwortlich ist. Sie ist zwar launisch, aber sie kann unter Beweis stellen, dass sie eine viel treuere Tochter als die scheinbar gute Schwester Li-ssu ist. Küss mich, Nana orientiert sich an Shakespeares Handlung, aber die Rollen und viele der Situationen sind an die Gesellschaft im heutigen Taiwan angepasst.
Auch wenn die Anpassung der Stücke, Themen und Rollen von Shakespeare an den taiwanischen Geschmack der bemerkenswerteste Aspekt des Godot-Theaters zu sein scheint, so hat die Verschmelzung der technischen Aspekte des westlichen und des asiatischen Theaters durch das Ensemble doch die größte Schlagkraft. Bei Küss mich, Nana gibt es zusätzlich zu westlichen Tanzstilen, Musik und Schauspielerei auch der chinesischen Oper entlehnte Akrobatik. Mit der Aufteilung von Pan Ta-lungs Dienstboten in drei akrobatische Charaktere wird die für Shakespeares Komödien so typische Turbulenz quasi dreigeteilt.
Außerdem tragen manche Rollen Kleidung des anderen Geschlechts, was sowohl bei Shakespeare als auch in der chinesischen Oper häufig vorkommt. Li-na und Li-ssu erscheinen dem weiblichen Publikum zu Anfang zwar eher als die einzigen zwei Rollenmodelle, aber am Rande gibt es noch Kou-tzu (Shakespeares Tranio), eine männliche Rolle, die hervorragend von einer verkleideten weiblichen Schauspielerin dargestellt wird. Ihr wahres Geschlecht wird kaum verheimlicht, und auf der Bühne herumtanzend intrigiert und steuert sie das Geschehen für ihren liebeskranken Herrn (Lucentio in Shakespeares Originalstück). Auch hier ist die Verschmelzung von Formen die größte Stärke des Godot-Theaters.
Im Fall von Küss mich, Nana zeigt sich diese Verschmelzung auch in der Verwischung der Geschlechtergrenzen, so dass der Vorstellungskraft des Publikums für Möglichkeiten, die in der Haupthandlung einfach nicht vorkommen können, keine Grenzen gesetzt sind. In dieser bisher erfolgreichsten Produktion von Godot nahm das Ensemble eines der beliebtesten westlichen Stücke und formte daraus etwas, das auch das junge lokale Publikum anspricht. So entsteht eine Art Gemeinschaftsdialog, an dem das Publikum teilnehmen kann.
Eines der Ziele des Godot-Theaters für die Zukunft ist der Besitz eines eigenen Theatergebäudes. Zwar sind die bisher genutzten staatlichen Veranstaltungsorte geräumig, gut angelegt und können ein großes Publikum aufnehmen, aber praktisch gesehen sind sie nicht ideal, denn für die Anpassung der Theater an die besonderen Bedürfnisse einer bestimmten Produktion mangelt es an Flexibilität. Mit einem eigenen Theatergebäude könnte die Truppe auch das ganze Jahr lang auftreten, wodurch die Notwendigkeit von Arrangements mit dem Management der staatlichen Theatergebäude wegfiele, und man würde auch nicht mehr in die lästigen ideologischen Differenzen bei Projekten verstrickt, bei denen der öffentliche und der private Sektor zusammen arbeiten müssen.
Ein weiteres wichtiges Ziel von Godot ist der Einbruch in den internationalen Theatermarkt. Als mögliche Tourneeorte sind Macau, Hongkong, Kanada und die USA im Gespräch. Im Hinblick auf die Sprachbarriere meint Liang, dass in Macau und Hongkong immer noch genügend Menschen Hochchinesisch können, und auch in Nordamerika wird diese Sprache von fast zehn Millionen Menschen gesprochen. Allein in Vancouver leben über 400 000 Taiwaner. Selbstverständlich wird Godots Arbeit, die schon das Interesse von vielen westlichen Gelehrten -- darunter auch die Teilnehmer an dem Treffen des US -amerikanischen Shakespeare-Verbandes im Jahr 1998 -- erregt hat, interessierte Shakespeare-Forscher mit unterschiedlichem sprachlichen und kulturellen Hintergrund anlocken. Im Shakespeare-Jahrbuch von 1999 steht übrigens auch ein Artikel über Küss mich, Nana des Godot-Theaters.
Was gibt es über den Spielplan der unmittelbaren Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu vermelden? Im August vergangenen Jahres brachte das Ensemble die Sommerproduktion Ein Mittsommernachtstraum von Shakespeare auf die Bühne. Bei der Musik der Produktion kamen sowohl die westliche Heavy-Metal-Gitarre als auch die chinesische Laute zum Einsatz, also eine Kombination von Shakespeare mit alter chinesischer Musik und moderner Rockmusik -- Elektrogitarrenriffs mit amerikanischen, englischen und afrikanischen Wurzeln. Das Godot-Theater wird beweisen, dass höchste Qualität der Theaterkunst, bei der es Interaktion mit dem Publikum gibt und ein gemeinschaftlicher Dialog geschaffen wird, keine zeitlichen, räumlichen oder nationalen Grenzen kennt.
Zu den geplanten Projekten zählt My Fair Lady , und dann natürlich wieder Shakespeare. James Liang denkt unter anderem an eine Inszenierung von Der Sturm, wobei taiwanische Ureinwohnerstimmen und -tanz als hauptsächliche, wenn nicht gar einzige Musik eingesetzt werden sollen. Das passt auch deswegen perfekt, weil die Gelehrten seit jüngster Zeit dieses Stück in engem Zusammenhang mit Kolonialfragen sehen. Auch könnte man die verschiedenen Völker Taiwans kaum besser gemeinsam auf die Bühne bringen. Das Godot-Theater bietet einen Ort, wo alle ihre Kultur und Vorstellungen friedlich zusammen bringen und an der immer anspruchsvoller werdenden Unterhaltung über Talente und Visionen teilnehmen können, die zu einer strahlenden Zukunft in Taiwan beitragen werden.
Nanette Jaynes ist Englischdozentin
an der Tamkang University im Norden
von Taipeh. Ihre Spezialgebiete sind
Shakespeare und Theaterkritik.