15.10.2025

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Lernen gegen das Altern

01.03.2000
Wenn man als Erwachsener etwas Neues lernen will, ist ein altersbedingt nachlassendes Gedächtnis oft der mächtigste Feind. Für manche ist das Alter aber auch eine bequeme Ausrede dafür, gar nichts mehr lernen zu wollen. Der aus der festlandchinesischen Provinz Sichuan stammende 75-jährige Yang Shih-hsien lernt seit 15 Jahren an der Nationalen Offenen Universität (NOU) und ist der lebende Beweis dafür, dass "Reife" kein Handikap sein muss.

Yang Shih-hsien: Die heutigen Kinder haben es gut. Bildung ist für sie selbstverständlich, vom Kindergarten bis zum Magisterkurs. In meiner Generation hatten wir nicht so viel Glück. Viele von uns haben überhaupt keine Schulbildung erhalten. Ich kann von Glück reden, dass ich vor dem Ausbruch des Krieges gegen Japan [1937] mit der [in China und Taiwan sechs Jahre dauernden] Grundschule fertig war, aber die meisten meiner drei Mittelschuljahre habe ich im Wald verbringen müssen. Ich schätze, viele der jungen Schüler heutzutage hätten gern mal Unterricht im Wald, aber wir mussten da aus Sicherheitsgründen hin. Ich erinnere mich, wie wir da auf dem Boden hockten und die Lehrer stehend mit einer kleinen Tafel herum hantierten. Wenn japanische Bomber auftauchten, schrien die Lehrer "Deckung!!", und wir warfen uns auf die Erde, die Arme über den Kopf und den Hintern hochgestreckt. Wenn die Luft rein war, ging der Unterricht weiter. Ich glaube nicht, dass man unter solchen Bedingungen überhaupt was lernen kann.

Wie dem auch sei, später ging ich wie viele andere junge Männer meiner Zeit zum Militär und zog dann nach Taiwan. Mit 46 Jahren nahm ich meinen Abschied von der Armee und arbeitete dann bis sechzig für das Wasserwerk Taiwan. Als ich 1983 erfuhr, dass die Fern-Universität probeweise Studenten annahm, zögerte ich keine Sekunde und meldete mich an. Damals gab die Nationale Offene Universität (NOU) ihren Absolventen nur eine Bescheinigung darüber, wie viele Scheine man dort erworben hatte. Ein Bachelor-Diplom konnten NOU-Absolventen erst einige Jahre später erhalten. Das war mir wurscht, denn ich stand ohnehin vor der Pensionierung, aber es war die große Chance für mich, endlich die vorher versäumte Bildung nachzuholen.

Ich sagte mir, dass es meine eigene Entscheidung sei und mir die Ansichten der anderen Leute egal sein könnten, aber irgendwie war es dann doch komisch, in dem Alter wieder ein Schüler zu werden, also behielt ich das für mich. Wenn ich sonntags Unterricht hatte, sagte ich meiner Frau, dass ich ins Büro ginge und Überstunden machte. Ich glaube, sie ist erst nach drei Jahren dahinter gekommen, was wirklich los war. Nach meiner Pensionierung konnte ich ja schlecht Überstunden als Ausrede benutzen, und immer mehr Menschen konnten die NOU-Lehrbücher am Aussehen erkennen. Meine Freunde und Bekannten mussten es erfahren. Manche bewunderten meinen Mut und standen hinter mir, aber wie erwartet fragten auch ein paar, wieso ich in meinem Alter noch Zeit mit Lernen verschwenden wollte.

In meinem Alter noch einmal mit dem Lernen anzufangen war nicht leicht, aber der größte Vorteil daran ist, dass mein Gehirn aktiv bleibt. Das hat mich vor Altersschwachsinn bewahrt. Die Kurse mit chinesischen Lehrbüchern haben mir keine großen Probleme gemacht, und bis 1991 hatte ich alle diese Kurse erfolgreich abgeschlossen. Mit den englischsprachigen Lehrbüchern komme ich aber nicht zu Rande. Damals in der Mittelschule hatte ich zwar ein paar Englischstunden gehabt, doch das ist lange her.

Für das Examen muss man aber zwei Englisch-Pflichtkurse bestehen. Den einen habe ich 1995 bestanden, und ein Jahr später kam ich dem erfolgreichen Abschluss des zweiten Kurses sehr nahe, aber dann wurde ein neues Lehrbuch eingeführt, und ich musste von vorne anfangen. Das war wirklich frustrierend. Ich hatte im Englischen nur eine sehr schwache Grundlage, daher musste ich fast jedes Wort im Wörterbuch nachschlagen. Ich will mich nicht beklagen -- das erinnerte mich an meine Mittelschulzeit in den Wäldern, als keiner meiner Mitschüler ein Wörterbuch besaß, nur der Lehrer hatte eins. Trotzdem wurde ich den Gedanken nicht los, dass ich den Kurs vielleicht schon hinter mir hätte, wenn sie das Lehrbuch nicht gewechselt hätten.

Das ist jetzt schon das achte Jahr, in dem ich diesen Englischkurs zu bestehen versuche, und ich hoffe, dass ich es dieses Jahr schaffen kann. An mangelndem Fleiß kann es nicht liegen -- neben meiner Teilzeittätigkeit als Berater hier im Studenten -Servicecenter verbringe ich praktisch meine ganze Zeit mit Englischlernen. Ich habe die ganzen Audio- und Videocassetten gekauft, vier Stunden am Tag höre ich mir im Bus Cassetten an, und wenn ich keinen Dienst habe, gehe ich noch in den Audio-Video-Raum der Schule. Aber wie oft ich einen Satz auch lese, ich kann ihn mir nur schwer merken. Manche Leute haben mir geraten, zur Prüfungsvorbereitung eine Nachhilfeschule zu besuchen. Ich habe das ausprobiert und gemerkt, dass ich die Handschrift der Lehrer in den Nachhilfeschulen nicht lesen konnte. Was nützt es, wenn ich noch nicht mal lesen kann, was die Lehrer an die Tafel kritzeln?

In ein paar Wochen haben wir Semester-Zwischenprüfung, und ich bin ein bisschen nervös. Ich sollte wohl nicht so nervös sein, aber ich bin es trotzdem. Als beim letzten Mal der Prüfungsbogen vor mir lag und ich nicht eine einzige Frage beantworten konnte, wurde ich sogar ohnmächtig. Der Lehrer dachte wohl, ich wollte mich ein wenig ausruhen, und ließ mich in Ruhe. Jedenfalls kam ich etwa zehn Minuten später wieder zu mir, krakelte irgendwas auf den Prüfungsbogen und ging dann raus. Komisch war nur, dass mir draußen die Antworten sofort alle einfielen. Ich war so wütend auf mich selbst, dass ich auf dem Heimweg wieder ohnmächtig wurde. Ich wurde ins Krankenhaus gebracht, und da sagte man mir, mein Blutdruck wäre nur siebzig zu vierzig.

Im Laufe der Jahre hatte ich Unterricht bei verschiedenen Lehrern, und die meisten waren wirklich gut, daher liegt es wohl an mir, wenn ich die Prüfung nicht bestehen kann. Ein Abschluss in Geisteswissenschaften wäre ehrenvoll, aber wenn ich in meinem Alter keinen kriege, dann bricht mir auch kein Zacken aus der Krone. Wenn ich aber den Abschluss mache, dann will ich keine Extrawurst gebraten bekommen. Ich will nicht, dass es hinterher heißt, ich hätte zwar den Englischkurs nicht bestanden, bekäme aber in Anbetracht meines hohen Alters trotzdem das Diplom. Es wird nicht leicht für mich sein, aber mir ist schon klar, dass es eine Nationale Hochschule ist, an der jeder Schüler zum Bestehen einen bestimmten Standard erfüllen muss.

(Deutsch von Tilman Aretz)


Anmerkung der Redaktion: Yangs
Beharrlichkeit machte sich mittlerweile
bezahlt. Er bestand kürzlich die
Englischprüfung und wird diesen Sommer
sein Diplom von der NOU erhalten.

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