Die Taiwanstraße zwischen Taiwan und dem chinesischen Festland ist an ihrer breitesten Stelle 220 Kilometer breit, an der schmalsten rund 130 Kilometer. Die zur Republik China gehörenden Matsu-Inseln sind dagegen keine zehn Kilometer von der Festlandküste entfernt, und von Klein-Kinmen bis zum Festland sind es gar nur 600 Meter. Trotz der geographischen und kulturellen Nähe der beiden Inselgruppen zur festlandchinesischen Provinz Fujian gehören sie seit 1949 nicht mehr zum nahen chinesischen Festland, sondern zur Republik China auf Taiwan. Damals hatte sich die Regierung der Republik China nach dem verlorenen Bürgerkrieg gegen die Kommunisten nach Taiwan zurückgezogen.
Jahrzehntelang galten Kinmen und Matsu als Sprungbretter der Militärs für eine Rückeroberung des Festlandes, doch heute betrachtet man sie als Sprungbretter für das praktischere Ziel einer Verbesserung der Beziehungen über die Taiwanstraße. Am 2. Januar dieses Jahres schipperte eine Gruppe von Verehrern der Meeresgöttin Matsu (von der die vorgelagerte Inselgruppe Matsu ihren Namen hat), darunter auch der Chef der Kreisverwaltung Matsu, von den Matsu-Inseln zum Geburtsort der Göttin auf der Insel Meizhou, Provinz Fujian, VR China. Fast gleichzeitig reiste eine Gruppe von Einwohnern Kinmens, ebenfalls angeführt von ihrem Kreisvorsteher, per Schiff direkt zur Hafenstadt Xiamen an der Küste Fujians.
Dies waren die ersten offiziellen direkten Fahrten zwischen beiden Seiten in 52 Jahren, und an den Kais drängten sich Reporter aus dem In- und Ausland, um über den historischen Augenblick zu berichten. Eine weitere bahnbrechende Reise fand am 6. Februar statt. Das erste an den Mini-Verbindungen beteiligte festlandchinesische Schiff brachte 76 frühere Bewohner von Kinmen zurück auf die Insel. An Bord war auch der 80-jährige Li Ming-fu, der vor langer Zeit von seinem Geburtsort Kinmen nach Vietnam gegangen war und sich später in Xiamen niederließ, bevor das Reiseverbot in Kraft trat. 61 Jahre nach seiner Abreise von Kinmen gab es für Li dann schließlich ein tränenreiches Wiedersehen mit seiner 90-jährigen Schwester -- alle anderen der neun Geschwister lebten nicht mehr.
Direkte Verkehrsverbindungen, direkter Handel und direkter Postdienst zwischen der Hauptinsel Taiwan und dem chinesischen Festland -- also die "drei größeren Verbindungen" -- sind zwar nach wie vor verboten, aber die Regierung der Republik China hat zum Beginn dieses Jahres direkten Kontakt zwischen den vorgelagerten Inseln und dem Festland unter der Bezeichnung "drei Mini-Verbindungen" genehmigt. Weil die offiziellen, direkten Verhandlungen mit dem Festland seit Jahren auf Eis liegen, musste die Entscheidung einseitig und ohne Abstimmung mit Peking gefällt werden.
Für eine Probezeit am Anfang hat die Regierung in Taipeh die drei Mini-Verbindungen Beschränkungen unterworfen. Beispielsweise dürfen nur Einwohner Kinmens oder Matsus, die seit mindestens sechs Monaten dort gemeldet sind, eine direkte Reise zum Festland beantragen. Touristen vom Festland dürfen nur in Gruppen von 10 bis 25 Personen auf den Inseln einreisen und maximal drei Tage bleiben, wogegen Besucher vom Festland, die zu geschäftlichen oder akademischen Zwecken kommen oder Verwandte besuchen, bis zu sieben Tage Aufenthalt gestattet bekommen. Direkter Güterverkehr zwischen der Hauptinsel Taiwan und dem Festland über die vorgelagerten Inseln bleibt weiterhin verboten.
Am 2. januar 2001 legte in Kinmen das erste Schiff seit 1949 zur 2-stündigen direkten Überfahrt nach Xiamen ab. (Liao Tai-chi)
Im Hinblick auf die Angelegenheiten über die Taiwanstraße war die Umsetzung der drei Mini-Verbindungen der bedeutendste Schritt, seit die Demokratische Progressive Partei (DPP) nach ihrem Sieg bei der Präsidentschaftswahl im März 2000 die Regierungsgeschäfte übernahm. " Die Absicht hinter den drei Mini-Verbindungen ist eine Geste unseres guten Willens gegenüber Peking, der Aufbau gegenseitigen Vertrauens über die Taiwanstraße und auch eine Art Vorübung für die drei größeren Verbindungen", erläutert John C. C. Deng, stellvertretender Vorsitzender des Rates für Festlandangelegenheiten (Mainland Affairs Council, MAC) im Regierungskabinett. "Wir haben konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Beziehungen über die Taiwanstraße ergriffen."
Peking wiederum verhält sich den drei Mini-Verbindungen gegenüber scheinbar gleichgültig, und die bei der ersten Direktfahrt am 2. Januar aufgetretenen Schwierigkeiten harren noch einer Lösung. Beispielsweise bestanden die Festlandsbehörden darauf, dass Schiffe aus Taiwan nur mit allen Passagieren vom Festland auslaufen durften, die auch bei der Ankunft dabei gewesen waren. Profitabler Schifffahrtslinienverkehr ist jedoch bei derartiger Unflexibilität nicht möglich. Die Beschränkungen des Festlandes könnten freilich jederzeit gelockert werden, und es gibt auch ermutigende Anzeichen: Am 13. Februar fuhren 59 Einwohner Matsus nach Mawei in der Provinz Fujian. Das Fährschiff erreichte seinen Zielhafen gegen Mittag und legte dann spätnachmittags ohne Passagiere in Richtung Matsu ab, um diese dann eine Woche später in Mawei abzuholen. Das Ereignis erscheint banal, markiert aber einen Durchbruch bei den Kontakten über die Taiwanstraße. "Wir haben es nicht eilig", sagt Deng gelassen. "Man darf eben nicht erwarten, dass alles sofort wie geschmiert funktioniert."
Trotz des augenscheinlich epochalen Schritts zum Aufbau der vorher verbotenen direkten Kontakte haben Kritiker von beiden Seiten der Taiwanstraße Taipehs einseitiges Handeln scharf angegriffen. Es hieß, die drei Mini-Verbindungen lieferten der DPP den Vorwand für eine Verschleppung der drei größeren Verbindungen oder für eine Unabhängigkeitserklärung. Wegen der Haltung der DPP zur Frage einer Unabhängigkeit Taiwans wurden die drei Mini-Verbindungen als Versuch interpretiert, eine Distanz zwischen den Bewohnern der vorgelagerten Inseln und Taiwan zu schaffen und erstere quasi näher ans Festland zu rücken, um dadurch eine Unabhängigkeit der Hauptinsel Taiwan leichter erreichen zu können. "Ich halte diese Kritik für unbegründet", widerspricht Chang Jung-kung, Generaldirektor der Abteilung für Festlandangelegenheiten in der KMT. "Immerhin ist diese Kritik aber ein deutlicher Beleg für das mangelnde gegenseitige Vertrauen zwischen Taipeh und Peking."
Die drei Mini-Verbindungen gerieten auch auf der innenpolitischen Bühne unter Beschuss, wobei das Fehlen von vorherigen Verhandlungen über die Taiwanstraße der Hauptkritikpunkt war. "Die DPP hat ihren guten Willen gegenüber Peking auf sehr ungeschickte Weise gezeigt", urteilt Chang. "Ohne ein bilaterales Abkommen über die Verbindungen werden die Regierungsbeamten in Peking nicht glauben, dass wir die Beziehungen verbessern wollen. Ihrer Ansicht nach benutzen wir die drei Mini-Verbindungen zur Aufpolierung unseres internationalen Images." Illegalen Handel zwischen dem Festland und Bewohnern Kinmens und Matsus gibt es schon seit vielen Jahren. Peking billigt dieses Treiben seit langem, Taipeh erst seit diesem Jahr. "Nun erlauben wir ihnen nichts weiter als das, was sie ohnehin schon seit Jahren machen, aber es wurde ein Medienspektakel daraus gemacht", tadelt Chang. "Darüber ist Peking natürlich nicht erfreut."
Im größeren bilateralen Zusammenhang richtet sich viel von der im Inland wegen der drei Mini-Verbindungen geübten Kritik an die Festlandpolitik der DPP-Regierung allgemein. 1992 einigten sich die damalige KMT-Regierung und Peking auf die Formel "ein China, unterschiedliche Interpretationen". Präsident Chen Shui-bian hat dagegen die Ansicht verworfen, bei dem Prinzip handele es sich um einen "Konsens", und bezeichnete es vielmehr als einen nicht näher bezeichneten "Geist".
Ältere Häuser in Kinmen sind im typischen festlandchinesischen Stil Süd-Fujians erbaut--ein architektonischer Beweis für die früher engen Verbindungen der Insel zum Festland. (Huang Chung-hsin)
"Die DPP will das 'Ein-China-Prinzip' umgehen, aber das läuft nicht", prophezeit Chang Jung-kung von der KMT. Es bringe auch nichts, sich über die Sturheit des Gegners zu beklagen. Man solle besser erforschen, wer der Gegner eigentlich sei und wie man am besten mit ihm auskäme. " Die Wiederaufnahme der Gespräche über die Taiwanstraße sollte bei der Regierung höchste Priorität haben", fordert er. "Andernfalls wären alle mit dem Festland zusammenhängenden Anstrengungen wie die drei Mini-Verbindungen nutzlos."
Yan Jiann-fa, Leiter der Abteilung für chinesische Angelegenheiten in der DPP, sieht das natürlich anders. Seiner Meinung nach können die einseitigen Verbindungen und die Reaktionen darauf ein Ausgangspunkt für Verhandlungen sein. "Die drüben sagen, dass Taiwan eine richtige Auseinandersetzung mit dem 'Ein-China-Prinzip' nicht ertragen kann, aber Festlandchina kann ebenso wenig die Entstehung eines unabhängigen Taiwan oder den Willen von Taiwans Volk aushalten", bemerkt er. "In einer festgefahrenen Situation muss etwas passieren, damit die Dinge in Bewegung kommen, denn sonst kann es Jahre oder gar Jahrzehnte dauern, bis es Fortschritte gibt." Durch wirklichen Kontakt können die Menschen lernen, wie man miteinander auskommt, findet Yan. Wenn die Ergebnisse solcher Kontakte beiden Seiten nützen, werden die Beziehungen sich normal entwickeln, im anderen Fall kann noch nicht einmal ein schriftliches Abkommen die Situation verbessern.
Nach Ansicht von Chang Jung-kung von der KMT sollte die Regierung sich darüber klar sein, dass das Festland nach Aufbau der drei Mini-Verbindungen einen wachsenden Einfluss auf Kinmen und Matsu ausüben wird. "Die Infrastruktur und Dienstleistungen wie Krankenhäuser und Schulen in diesen früheren militärischen Bollwerken sind minderwertiger als die in den südostchinesischen Küstenregionen, besonders im Vergleich zu großen Städten wie Xiamen", enthüllt er. "Wenn die Regierung nichts gegen die immer engeren Bande zwischen dem Festland und unseren vorgelagerten Inseln unternimmt, dann werden Kinmen und Matsu verloren gehen, weil die politische Identifikation der Einwohner dort sich dann über kurz oder lang zum Festland neigen wird."
Deng vom MAC ist dagegen zuversichtlich, dass Taiwans Demokratie und pluralistische Gesellschaft die Loyalität der Bewohner Kinmens und Matsus garantieren werden. " Eben weil sie das Umfeld auf dem Festland genauer in Augenschein nehmen können, werden sie die Probleme dort besser erkennen können als andere Taiwaner", versichert er. "Sie machen ihre Geschäfte mit den Festlandchinesen und verdienen Geld, aber deswegen werden sie nicht notwendigerweise das dortige System gutheißen." Yan Jiann-fa von der DPP betont, dass die Regierung sich aus Nationalstolz und auch aus Sicherheitsgründen niemals von den vorgelagerten Inseln entfremden wird.
Wie man sieht, gibt es hier bei fast allen Aspekten politische Zusammenhänge, und so sehen die Mini-Verbindungen oft nur wie ein weiteres Kapitel im Taiwanstraßendrama aus. Laut Yan ist die Umsetzung der drei Mini-Verbindungen aber auch Bestandteil eines im April 2000 vorgestellten Entwicklungsplanes für die vorgelagerten Inseln. "Das Hauptziel ist der Aufbau einer autonomen Wirtschaft auf den küstennahen Inseln", verkündet er. "Die Bedürfnisse der Einwohner müssen Vorrang vor den drei Mini-Verbindungen haben." Die Mini-Verbindungen sind zwar nützlich für die Vorbereitung der größeren Verbindungen, aber sie sollten nicht ausschließlich als Sprungbrett für höhere Dinge dienen.
Viele der auf Kinmen und Matsu angelegten Bunkeranlagen werden seit dem Nachlassen der Spannungen über die Taiwanstraße als Weinkeller genutzt. (Chang Su-ching)
Der Bau zusätzlicher Einrichtungen wie Häfen und die Versorgung der zu erwartenden festlandchinesischen Besuchermassen ist für die Förderung der drei Mini-Verbindungen notwendig und nützt daneben auch noch der Wirtschaftslage auf Kinmen und Matsu. Als die Inseln noch primär Militärbastionen waren, wurde ihre Entwicklung der Landesverteidigung untergeordnet. Nach der teilweisen Entmilitarisierung 1992 mussten die Bewohner wirtschaftliche Einbußen hinnehmen, weil sie sehr oft von Geschäften mit Armeeangehörigen abhängig waren. Die Bemühungen zur Umwandlung Kinmens in ein Inlands-Touristenziel ließen sich zunächst zwar vielversprechend an, aber der Reiz des Neuen hat sich mittlerweile abgenutzt. Heute liegen die Wirtschaftsindikatoren der beiden Inselgruppen weit hinter dem Rest von Taiwan zurück. "Die drei Mini-Verbindungen sind der einzige Ausweg für die küstennahen Inseln", unterstreicht Tsao Yuan-chang, ehemaliges Mitglied der Nationalversammlung und ein früher Fürsprecher für direkte Kontakte zwischen dem Festland und den vorgelagerten Inseln.
Der auf Matsu geborene Tsao kann es kaum erwarten, dass die Bewohner Kinmens und Matsus in den Genuss der üppigen und gut zugänglichen Ressourcen Fujians wie Wasser, Elektrizität und medizinische Versorgung kommen. Andere Einwohner der Inseln stehen dieser Idee ein wenig skeptischer gegenüber. Bei einer Umfrage erklärten 70 Prozent der Einwohner Kinmens und Matsus ihre Ablehnung der drei Mini-Verbindungen. Tsao schreibt diese Haltung Sicherheitssorgen aufgrund von Erinnerungen an Angriffe und Raubzüge von festlandchinesischen Piraten zu. "Die Regierung hat bei der Aufklärung über ihre Pläne nicht gut genug gearbeitet", glaubt er. "Sie hätte die Ressourcen des privaten Sektors besser nutzen sollen."
Die Taiwaner fühlen sich auf der internationalen Bühne oft an den Rand gedrängt, besonders im Vergleich zu Hauptakteuren wie den USA und der VR China, aber Kinmen und Matsu sind noch weiter ab vom Schuss. "Die Verbindung zwischen Kinmen und Taiwan ist im Grunde total künstlich", murrt Tung Chen-liang, ein Filmemacher aus Kinmen, der schon mehrere Dokumentarfilme über seinen Geburtsort gedreht hat. "Gebürtige Kinmener hätten für einen besseren Job oder höhere Bildung nach Xiamen anstatt nach Taiwan gehen dürfen sollen." In einem seiner Filme heiratet eine Frau aus Xiamen einen Mann aus Kinmen, und als sie nach einer zweitägigen Flugreise über Hongkong und Taipeh im Haus ihres neuen Gatten ankommt, stellt sie fest, dass sie ihre Heimat am gegenüberliegenden Ufer mit bloßem Auge sehen kann.
Die Ungerechtigkeiten der Trennung von Familien durch politisches Ungemach sind hier vielleicht nicht so extrem wie in Korea, aber die emotionalen Folgen sind sehr ähnlich. In dieser Hinsicht war möglicherweise das wesentlichste Ergebnis der drei Mini-Verbindungen die Rückkehr der 76 aus Kinmen stammenden Senioren, die sich zu dem Zeitpunkt der Unterbrechung der Verkehrsverbindungen vor 52 Jahren unglücklicherweise auf dem Festland aufhielten, zu ihrem Geburtsort Kinmen am 6. Februar. Für sie ist das politische Gerangel relativ bedeutungslos, doch der Akt der Heimkehr ist die Realität.